Prolog: In den 1950er Jahren weilt der junge Friedrich Dürrenmatt mehrfach im Waldhaus Tarasp, spaziert täglich hinab zur Trinkhalle, zur Büvetta, um ein Glas Quellwasser zu trinken. Die Eindrücke seiner Aufenthalte hat er in seinem letzten Roman «Durcheinandertal» von 1989 verarbeitet.
Einerseits und anderseits. Eingeklemmt. Es geht steil rauf. Beiderseits. Dazwischen rauscht es. Von rechts nach links. Mal mehr. Mal weniger. Die einen nennen es Badehaus, die anderen sprechen vom Künstlerhaus und zwar beide Fraktionen in solcherart Ton, dass man meint, Verrücktenhaus zu verstehen.
Im Badehaus, meinem neuen Zuhause für die nächsten sechs Monate werde ich in einem eierschalenfarbenden, gefliesten – diese Fliesen mit scharfen Kanten, auf Stoss verlegt an den Wänden Zimmer, da werde ich wohnen und vor der Wand, der mit dem Fenster, da fliesst der Inn, mal dümmelt er so vor sich hin, mal kreischen die Riverraffter an meinem Schreibtisch vorm Fenster vorbei, mal steigt das Wasser und steigt und die Wellen klatschen an das Fundament und kräuseln sich über den Zementsims und dann sieht man die Stufe gar nicht mehr und das ist der Moment, ab dem es wirklich schwierig wird mit dem Schlaffinden.
Wie stelle ich das Bett? Quer oder lass ich mich treiben mit dem Fluss oder stemme ich mich flussaufwärts. Maritime Träume monatelang. Das Bett mein Boot – ich entscheide mich für quer, den Kopf, dem gegenüberliegendem Ufer zugewandt.
Eine auswärtige Schriftstellerin wundert sich über die Delfine und Meerfrauen in den Sgraffito im Tal: Ein Einheimischer klärt sie auf: Die Delfine kamen vom Schwarzen Meer und wollten in die Adria, die Donau, den Inn hinauf und kamen so ins Engadin. Da aber mussten sie dann sehr, sehr nasse Augustnächte abwarten, damit sie bequem über den Malojapass ins Bergell hinuntergleiten konnten.
Insgesamt also viel Wasser, viel Gestein, viel Wundersames. Ich könnte angeln aus dem Fenster. Ich trinke täglich Bonifazius, eine Flasche frisch gezapft in der Trinkhalle am anderen Ufer, habe ein Tauchbecken, wenn auch trockengelegt, im Zimmer, im ganzen Haus ein einzig Rauschen. Und Horizont war nicht mehr. Es stand immer etwas davor. Felsen, ein Hotelkasten, gewölbte Wiesen. Sechs Monate gefördert zwischen den Hindernissen und wohnen am Wasser.
Als ich ankomme wird Schnee lautstark zu Wasser. Es röchelt. Der Fluss frisst sich durch Gebirge. Die Wellen schmatzen und verschlingen Weglein und Steinmännchen im Kieselbett, tilgen Ufer. Der Fluss ist milchig und in ihm tanzen Baumstämme auf und nieder mit solcher Leichtigkeit wie Sommermonate später die Stöcklein für den Hund oder die Stöcklein, die gelangweilte Wanderkinder von der Brücke werfen, auf die andere Uferseite wechseln und ihnen nachschauen werden.
Lauter Fremde am beeindruckend langen Tisch. Ein Bügeltisch aus dem Keller, der früheren Wäscherei des Kurhotels. Am Fluss, im Haus, am Tisch, viele Köpfe und Projekte. Draussen wütet die Schneeschmelze, drinnen meint man die Wasserhähne erwachen, neidisch auf die Freiheit, die Frische da Draussen. Es gibt sogar einen Gurgelraum, für die Damen und einen für die Herren. Über unseren Köpfen nicht der Himmel, sondern ein Märchenschloss mit Wasserklosett und Zentralheizung und einer pneumatischen Orgel in einer ehemaligen Waffenkammer. Das hat sich alles ein sächsischer Mundwasserproduzent geleistet.
Dieser Herr Lingner konnte sogar den italienischen Komponisten Giacomo Puccini überzeugen, eine Odol-Ode zu komponieren.
Kurplatzkopfkino: damals im Badehaus vor einhundertfünfzig Jahre: Wasser trinken und Körper wässern. Becken und Wannen hinter den Türen, Fliesenböden, Fliesenwände.
Gelbe Füsse und schmerzende Nacken alter Männer im schwefeligen Wannenbad.
Der Boiler hustet im Künstlerhaus. Erschrockene Siebenschläferbeinchen huschen über die Täfelung. Der Organisator erwähnt ein Spinnennest in seiner Schreibmaschine, wie solle er denn unter solchen Bedingungen organisieren, mal ehrlich. Die Sprachkünstlerin verspricht ein Wortbad für den nächsten Freitag und schwankt in der Art mutigen Matrosenschrittes mit beachtlichen Körpermassen den schnurgeraden Flur entlang. Ein zerbrechlicher Musiker mit disharmonischen Absichten besichtigt den Flügel und öffnet seinen Gerätekoffer zum Bearbeiten der Saiten, stellt sichtlich zufrieden eine erste Session ebenso für besagten Freitag in Aussicht.
Eine ferne schulgelernte Balladekommt mir in den Sinn. Von Bert Brecht gedichtet, von Gisela May gesungen.
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Am Grunde des Wasser da wandern nicht nur Steine, nein ich bin mir ganz sicher, da liegen auch Krönchen und Schätze, bewacht von dreiköpfigen Bestien. Der Welten Ordnung ist ein Gewebe fester normativer Vorgaben, die von magischen Verführungen durchdrungen ist. So wird ein Schuh draus. Alles was die Sinne wahrnehmen ist Zeichen, das Wort, die Geste, die Naturerscheinung.
Die Geschwister Luzius und Emerita wollten bekehren, wollten roden im heidnischen Dickicht vor 15 Hundert Jahren. Emerita starb den Feuertod. Ein hiesiger Heilquell wurde nach ihr benannt.
1843 entsteht eine einfache Trinkhalle, eine Büvetta und bereits ein Jahr später macht der Baedeker auf den Ort aufmerksam, bemängelt jedoch die wenigen Übernachtungsmöglichkeiten. Mit dem Bau des Kurhauses zwanzig Jahre später kommen die vornehmen Gäste. 300 Betten, neusten Komfort, glanzvollen Säle, pittoreske Salons, erlesene Küche. Dampfpumpen führen das Heilwasser direkt in die Badeanlagen des Kurhauses. Die Büvetta zieht nach mit Avenholz verkleideter Wandelhalle, bergseitig angeordneten Verkaufsboutiquen, grossen Bogenfenstern zum Inn und als Krönung die Rotunde mit festlichen Säulen auf hohem Marmorsockel, Arena für die drei Quellenheiligen Bonifazius, Emerita und Luzius.
Das Skifahren kam in Mode mit den zehner Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Kurhaus kannte aber eben nur die Sommersaison, übrig blieb Prunk und Wasser und die Siechen und Greise und Verrückten; alles andere als eine vitale Verbindung.
Ich bevorzuge Bonfacius, den Gutmacher und Wohltäter. Einmal täglich suche ich ihn heim in der Büvetta. Der Herr der Wasser: ein mittelalter Mann, der lappige Hausmeisterkittel spannt unvorteilhaft überm Bauch, das Haar schütter, Schultern hängend, Kinn fliehend. Plastikbecher knistern hallig. Es ist unangenehm fusskalt. Die Läden in den Nischen zugenagelt, das Avenholz hinter Kunstharzlaminat versteckt. Ah, wäre da nicht dieses fröhliche Plätschern. Gegen jegliches Leiden findet sich was. Wohlschmeckend allerdings nicht. Kein Geringerer als Paracelsius berichtete wohlwollend und der alte Gessner kurierte hier seinen Ischias, so heisst es.
Im Durcheinandertal wird viel gelauert, der Dachs unter der Wurzel, im Moor das schwarze Männlein und die bösen Mütter Segantinis gefangen in den Birken, oben beim Hexenstein. Über die Brücke, entlang an den Tennisplätzen, im Zickzack den Hang hinauf, den Golfplatz nur geschnitten, hübsch umzäunt der Schalenstein daneben ein kleiner Menhir.
Über die Art der kultischen Zwecke der in der Bronzezeit beigebrachten Vertiefungen herrscht keine Einigkeit. Das Feld ist weit und reicht von Butterlichtern bis zu einem ausgeklügelten System vom Überlaufen und sich Ergiessen grausliger Blutrituale.
oder etwa Startrampe für Besessene mit Flugsalbe, bestrichen an dünnhäutigen Körperstellen, selbstredend bei Vollmond. Weise Frauen und Männer und keine Geringere als die Urmutter machen sich breit in den gegenseitig präsentierten Freitagabend-Kulturprogrammen im Künstlerhaus. Wir sind mehrheitlich Frauen, das Thema bewegt. Meine Verbundenheit mit den Absonderlichkeiten wächst. Im Ort gibt es eine kleine Bibliothek und eine der regionalen Zauberei sehr zugetane Bibliothekarin. Ich mache mich auf die Suche nach gutem Heinrich, Scharbockskraut und Gundermann, koche Brennnesselpizockel und Capuns.
Und wie siehts bei den Nachbarn aus? Nur rasch über den gepflegten Rasen durch den Robinson Club ehemals Grandhotel Kurhaus, Hintereingang. Am Vormittag dürfen die aus dem Künstlerhaus die Saunalandschaft benutzen. Da sind die Robinsons ausgeflogen. Die Grossen zum Picknick am Moorsee, die Kleinen zum Ziegenfüttern, Mittelgross zum Rafften, Sportiv beim Biken. Nur ein paar Mamis liegen beim Verwöhnprogramm unter Maske, ansonsten wir unter uns, unter Dampf.
Humor gibts einmal wöchentlich. Geisterbahn. Der Verbindungsgang zwischen Badehaus’ ehemaligem Wäschereikeller und dem schönen alten Hotelkasten wird geöffnet und wir halten uns von der Kellerklappe fern. Im unterirdischen Gang und unserem Keller tobt dann die Vampiparty mit ordentlich Schnaps und Geschrei. Es soll sogar schon Stipendiaten gegeben haben, die sich für die Geisterbahnnummer hergaben und gegen Getränkebons den Clubreisenden das Fürchten lehrten.
Wir haben auch durchaus gearbeitet und gelegentlich den Einheimischen präsentiert im Badehaus, dem Künstlerhaus. Und es kam das Schellenursli, also das echte Schellenursli, also der Echte, ein Mann mit Vollbart um die 60, etwas leidend an seiner ewigen Kindheit. Im Durcheinandertal hatte ich einen Freifahrtschein, so wie nie wieder in meinem Leben. Was so entstand: eine Gemeinschaftsarbeit mit einer bulgarischen Performerin und deutschen Musikerin über die Ordnung. Wir hatten im Keller einen ganzen Sack voller quadratischen Zettel gefunden, genau im Format der Bodenfliesen der Eingangshalle mit den Zahlen von Null bis Hundert. Einen Text über die Schönen Madonnen, spätgotische Plastik, Marienbildnisse, Peter Parler und da wären wir in Prag und an der Moldau, weil dort tätig und diesen Stil nachhaltig prägend und eine Arbeit über Segantinis Böse Mütter, die vermeintlich oben in den Birken beim Hexenstein und über eine Malerin; jüdisch, frankophil; Deportation; Resistance, DDR, Sozialistischer Realismus, kosmopolitisch, viel zu früher Tod und damals 1995 absolut nicht gefragt.
Der Schnee ging, der Schnee kam. Dürrenmatts Durcheinandertal der Schluss: Nachdem ranghohe Mafiosi aller Couleur in den Wintermonaten das geschlossene Kurhaus übernommen hatten. “Die Langeweile setzte den schweren Jungs zu. (…) nur das Heulen der Winterstürme, der bald einsetzende Schneefall, die Stille der folgenden Nächte, drauf wieder Schneefall, drauf wieder Totenstille.” Schwerenöter Marihuana -Joe kann nicht von lästigen Gewohnheiten lassen und mordet im Tal. Um Unerkannt zu bleiben muss er sich einer aufwändigen Gesichtsoperation unterziehen. Praktiziert in der Wäscherei, im Keller des Badeshauses auf einem der riesigen Bügeltische.
Lesung 23. März 2019 aus: AT Schweizreise, Brit Hartmann